ZURÜCK BLEIBEN 2. 10. – 6. 11. 2021

MATTHIEU MARTIN – ZURÜCK BLEIBEN

2. 10. – 6. 11. 2021

ERÖFFNUNG: SAMSTAG 2. 10. 2021 │ 13 – 19 UHR

 

Video: Elma Riza

Matthieu Martin scheint als Künstler „verrückt“ zu sein, wie man einen Stuhl verrücken kann oder – in größerem Maßstab: die Welt aus den Angeln heben. Dabei entstehen die Sprünge in seinem Werk gerade aus dem Interesse an eben dieser Welt, im Großen wie im Kleinen. Und immer ist in der Begegnung mit ihm, dem Werk, auf beides zu achten: Distanz und Nähe zugleich.

Allein die „Sprünge“ können ganz Verschiedenes bedeuten, sprichwörtlich eben wie der „Sprung in der Schüssel“ für einen, der etwas „neben der Tasse“ steht, die wiederum auch einen Sprung haben kann und, so hübsch sie sonst auch sein mag, einfach unbrauchbar ist.

Gleiten wir ab? Ja, genau wie den Künstler die Bedeutungen „neben der Spur“ interessieren: die Absperrungen zum Beispiel, die uns von wertvollen Kunstwerken trennen und diese vor uns schützen sollen. Dabei fällt ihm auf, dass etwas auch deshalb wertvoll scheinen oder gar werden kann, weil es nicht erreichbar ist.

Der Abstand kann dafür nicht selbst verantwortlich sein, denn dann müsste in uns das Gebot der Distanz sofort für jeden fremden Menschen mehr Achtsamkeit erwecken. Oft aber scheint genau das Gegenteil wahr zu sein. Also muss wohl die Intimität zum anderen den Ausschlag geben, wie stark uns die Trennung von ihm berührt. Weiter Entfernte bleiben dagegen nicht nur fremd, sondern werden gern noch mehr auf Abstand gehalten als zuvor. Überraschend näher kommt uns trotzdem das Leid der anderen, wenn es nur weit genug wegbleibt – eine überaus überraschende Regung des menschlichen Gemüts.

Diese Gedanken führen nicht von der Kunst weg, sondern vielmehr zu ihr hin. Denn es gilt heute mehr denn je die Frage, wie Emotionen zu vermitteln sind zwischen Resignation und Zuversicht, für die es wohl zugleich keinen oder jeden Grund gäbe. Die Arbeit von Matthieu Martin wird in diesem Sinn wirksam, dass sie die Aufmerksamkeit auf Details wie zugleich auf größere Zusammenhänge verlangen und fördern kann. Sie sind allgemein auf Steigerung von Aufmerksamkeit aus, wie wir es auch von komplizierten Musikstücken und anderen avancierten Werken kennen.

Man kann in einem (nicht nur) profanen Sinn von einer Kunst der Offenbarung sprechen, weil sie unsere Sinne auf die Wahrnehmung von Zusammenhängen des Großen & Ganzen richtet, die wir sonst nur allzu gern verdrängen. Philosophische Texte reagieren schon sehr viel länger auf solche Fragen, seit dem Beginn des Industriezeitalters. Völker mit natürlich gebliebenen Wurzeln im ursprünglichen Wissen um die Kräfte und Balancen des Kosmos mahnen gar seit dem Beginn der „Zeit“, diese Welt mit Liebe zu achten.

In einem dagegen vielleicht banalen, aber sehr schönen Text zum Ende unserer Existenz sagt Peter Trawny („Ins Wasser geschrieben“), der zum Weltenende nicht ganz zu Unrecht auch Ausbrüche von Gewalt befürchtet: „Die Gemeinschaft des Todes könnte in eine einzigartige Gemeinschaft der Verlorenen, der Liebe umschlagen. Unendliche Zuwendung – alles wäre Abschied, alles Nähe, alles Verlust. Wir würden die letzten Entscheidungen frei treffen. Aber es wird zu spät gewesen sein“. Wir sind so frei…