14.11. – 19.12.2015 Die Spuren des Anderen – Für Emmanuel Levinas (*12.1.1906 Kaunas – † 25.12.1995 Paris)

Alice Baillaud, Christine Berndt, Ilona Kálnoky, Astrid Köppe, Edith Kollath, Nana Kreft, Pia Linz, Charlotte Perrin, Aurélie Pertusot, Lilla von Puttkamer, Anne Rinn, Marcelina Wellmer

14.11. – 19.12.2015  Die Spuren des Anderen – Für Emmanuel Levinas (*12.1.1906 Kaunas – † 25.12.1995 Paris)

Eröffnung: Samstag, 14. November 2015 um 19 Uhr

„Der Andere, der sich im Antlitz manifestiert, durchstößt gewissermaßen sein eigenes plastisches Wesen wie ein Seiendes, das das Fenster öffnet.“

Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen

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Zeichnung: Anne Rinn

Marcelina Wellmer Scanned_Image

Marcelina Wellner : Scanned Image

Alice Baillaud Calligramme 2

Alice Baillaud : Calligramme2

Christine Berndt SchattenFuge 2

Christine Berndt: SchattenFuge 2

Edith Kollath_In Between Stills

Edith Kollath: In Beetween Stills

Die Referenzen zu Levinas’ Denken sind schnell aufgefunden (und von ihm selbst in der biografischen Skizze „Signatur“1 benannt): Bergson, Buber, Gabriel Marcel, Husserl – also ohne Ausnahme Juden. Und dann der später zum Nazi kollabierte Heidegger. Biografisch und nachhaltig auch literarisch einflussreich war die Jugendfreundschaft mit Maurice Blanchot. Der aus Kaunas/Litauen stammende Levinas kannte ihn seit dem Studium in Straßburg (ab 1923), ging dann aber nach Freiburg zu Husserl und Heidegger (1927-28). 1931 erhielt Levinas die französische Staatsbürgeschaft. 1935 erschien sein erstes Werk, auf Deutsch erst sechzig Jahre später: Ausweg aus dem Sein.

Den 2. Weltkrieg überlebte Levinas als französischer Soldat in deutschen Lagern, wo immerhin auch der große Entwurf zu seinem Buch Vom Sein zum Seienden entstand. Nach dem Krieg erfuhr er, dass seine gesamte Familie, bis zu entfernten Verwandten, in Litauen ermordet wurde. Überlebt aber haben seine Frau und die Tochter, die – unter anderem mit der Hilfe von Maurice Blanchot – im besetzten Frankreich versteckt wurden. Levinas hat nie wieder deutschen Boden betreten, in seinen Schriften aber die Achtung vor dem Fremden und die Würde des Anderen in allen Aspekten beleuchtet.

Vielleicht war es gerade die Erfahrung des Krieges, die den jungen Philosophen bestärkt hat, dieses Thema zu wählen: sich angesichts der Auflösung aller humanen Werte ganz dem Nächsten zuzuwenden, dem „Menschsein vom Anderen her“, wie Ludwig Wenzler schreibt. Es ist immer das eigene Ego, die Selbstbezogenheit, die dem Menschen den Blick auf seine Mitwelt verstellt (oder entstellt). Daher soll ihm, mit Levinas gedacht, seine Identität „auf der Ebene der Selbstbehauptung entrissen werden, um ihn in der Dimension der Ethik mit einer neuen Identität zu bekleiden“.2a

Die dazu notwendige Transformation des Bewusstseins muss „erlitten werden, indem sich der Denkende den Leiden der Menschen aussetzt“. Diese Position ermöglicht, „der Stimme des Anderen mittels der eigenen Stimme Resonanz zu verleihen“.2b Levinas ist nach allem von ihm Erlebten durchaus Realist, ja sogar Skeptiker, der seine Ansprüche stets als Möglichkeit formuliert, immerhin aber als etwas Erreichbares (oder zumindest Vorstellbares): „Ein dem Menschen übelegenes Prinzip ist dem Menschen zugänglich“, schreibt er in Die Spur des Anderen.3 – Und gleich einer Definition seiner eigenen Postion formuliert er: „Den Anderen achten heißt vor allem sich auf seine Meinung zu beziehen“.4

Dabei fällt auf, dass seine Aussagen nie kategorisch und nie im Imperativ formuliert sind: er sagt nie „Du sollst“ oder „Du musst“, aber: „wir können“, es ist uns möglich, menschlich zu sein, dem Anderen den Vortritt zu lassen. Und sich auf die Meinung eines anderen beziehen heißt nicht, ihm recht geben zu müssen. Wir können auch widersprechen, aber wir tun es am besten, indem wir zuerst die andere Seite respektieren, das meint Levinas. Und er formuliert seine Gedanken stets auf ganz ungewöhnliche Weise, die wir künstlerisch nennen wollen: „Ideen, in die Sprache gezeichnet“, wie Thomas Wiemer sagt.5

Auch im sprachlichen Vermögen wird als deutsches Pendant zu Levinas gern die Dialog-Struktur zitiert, die Martin Buber entwickelt und exemplarisch ausgeführt hat. Das ist so richtig wie ergänzungswürdig, denn die Position des Franzosen ist immer noch mehr eine des Dazwischen: zwischen den Sprachen, Kulturen, Religionen, zwischen den Kriegen und auch im Thema des Zwischenmenschlichen.6 – Ludwig Wenzler erkennt gar bei Levinas ein „Denken im Übergang zwischen zwei Dimensionen“7, womit auch Ebenen gemeint sind wie die des Heiligen und des Profanen. Die Themen, auf die wir mit Levinas kommen, sind damit noch lange nicht erschöpft.8

Die Auswahl der Künstlerinnen für diese Ausstellung war bestimmt von der besonderen Sicht, die ihre Arbeit offenbart, dem anderen Blick oder auch einer Stimmung, die man nicht oft in Kunstwerken entdeckt. Die ausgestellten Arbeiten sollen daher auch nicht Ideen oder Sätze von Levinas illustrieren, sondern viel spezieller das Andere der eigenen Befindlichkeit stiften, einer spontanen Geste gleich, an der man die Gleichgesinnten erkennt, im Geheimnis ihrer Sorge, ihrer Hoffnung oder ihres Begehrens.9 Womöglich geht es uns bei einem solchen Unternehmen ganz allgemein um die Frage des persönlichen Glücks, verstanden zu sein…

Dazu schreibt Alexander Chucholowski in der Einleitung zum Ausweg aus dem Sein: „Es zeigt sich, dass die Frage nach dem Glück des Subjekts nicht anders als durch die Verantwortung angesichts des Anderen beantwortet werden kann. Das Ideal des Glücks und der Würde des Menschen wird von einer Ethik des Anderen vorgegeben…, in dessen Schuld ich bereits stehe, sofern ich ihm meine Freiheit, mein Glück und meine Würde verdanke“.10 Und es geht eben bei alledem nicht nur um eine spezielle „Sicht“, sondern um die Spur des Anderen in meinem Sein und Tun, in Werk und Wirkung meiner Existenz.

Ganz allgemein kann man vielleicht sagen, dass Levinas uns mit seinem Denken die Aufgabe vergegenwärtigt, uns in der Möglichkeit des Menschlichen zu bewähren. Daher hat unsere Ausstellung auch ganz pragmatisch den Zweck, zur Beschäftigung mit diesen Texten zu inspirieren, was oft nicht leicht ist, weil die Lektüre uns stark fordert, indem sie „erweckt“, sie versetzt uns, wie Ludwig Wenzler sagt, „in die Wachheit einer unendlichen Beunruhigung“, sie wirkt als „Ausdruck jenes Keuchens und jener Atemlosigkeit des Geistes, der als Passion für den Humanismus des anderen Menschen weht“ (T. Wiemer). Die Philosophie wirkt somit im Sinne von Emmanuel Levinas als Befreiung aus Vorurteilen und Dogmatismus.

Ralf Bartholomäus

 

1 Emmanuel Levinas, Eigennamen. München (Hanser) 1988, S. 107-125. Eigentlich erschien der Text urspr. in der französichen Ausgabe von „Difficile Liberté“ (1976), dt. „Schwierige Freiheit“ (1996). Hier wurde er wohl für entbehrlich gehalten, weil er zuvor in „Eigennamen“ abgedruckt wurde, leider mit dem Titel „Unterschrift“.

2 Ludwig Wenzler: Einleitung zu Emmanuel Levinas, Humanismus des anderen Menschen. Hamburg (Meiner) 2005, S. XVII. und XXVI.

3 Emmanuel Levinas, Von der Beschreibung zur Existenz (1949). In: Die Spur des Anderen. Freiburg (Alber) 1983, S. 75.

4 Emmanuel Levinas, Ausschließlichkeit. In: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1996, S. 183. – An anderer Stelle wendet sich Levinas gegen eine „Tyrannei der Meinung“, denn „unter Wahrheit verstehen wir auch die freie Zustimmung zu einer Aussage… Die Freiheit des Forschers, des Denkers, der keinem Zwang unterliegt, drückt sich in der Wahrheit aus“. Siehe: Die Philosophie und die Idee des Unendlichen. In: Die Spur des Anderen, a.a.O. S. 186.

5 Thomas Wiemer, Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache bei Emmanuel Levinas und ihrer Realisierung im philosophischen Diskurs. Freiburg; München (Alber) 1988. – Ein monumentales Werk von nahezu 500 Seiten (mit Anmerkungen), das man bei allem Respekt den beiden Hauptwerken Levinas’ an die Seite stellen kann; mit ausfühlichen Studien auch zur Korrspondenz mit den Schriften von Derrida über „Gewalt und Metaphysik“ und dem Freund Blanchot: Hier wird gewiss, dass es mehr als nur Berührungen und Respekt gab, nämlich einen gemeinsamen Weg. / Zum literarischen Niveau des philosophischen Diskurses lese man die wunderschöne Passage über die Erschlossenheit der Existenz in „Jenseits des Seins“, S. 78f. (franz. p. 37).

6 Diesem Thema widmet T. Wiemer im oben erwähnten Buch den ersten seiner starken Essays als Einleitung.

7 Siehe Anm. 2, S. XXIII.

8 Levinas selbst hat eine Trennung vollzogen zwischen philosophischen Schriften und den religiösen, speziell seinen Talmud-Lesungen. Natürlich war das nicht streng durchzuführen. Um hier einen Eindruck von dem zu geben, was ihm Glauben bedeutet hat, soll nur diese eine Stelle dienen: „Die Idee Gottes, das ist Gott in mir, sofern er sich von jedem Inhalt unterscheidet.“ Man fühlt sich an Aussagen von Meister Eckhart und Jacob Böhme erinnert. Zitat aus: E. Levinas, Gott und die Philosophie. In: B. Casper (Hg.), Gott nennen. Freiburg / München 1981, S. 96.

9 Die erotische Geste in der Hinwendung zum Anderen bekommt bei Levinas eine besondere Würde, wenn er sie am Begriff der Güte misst, die wir empfangen, „unfähig, den Anderen mit leeren Händen anzusprechen“. In: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg; München (Alber) 1987, S. 63f.

10 Emmanuel Levinas, Ausweg aus dem Sein. Einleitung von Alexander Chucholowski. Hamburg (Meiner) 2005